Beim Beschäftigen mit mittelalterlichen Kopfbedeckungen, insbesondere des späten 14. Jahrhunderts, stolpert man relativ schnell über eine scheinbar klare Einteilung: einfacher Schleier hier, Kruseler dort. In der Praxis – beim genauen Hinsehen in Bildquellen – wird diese Trennung jedoch unscharf. Der folgende Beitrag ist aus genau dieser Beobachtung entstanden. Er basiert auf der Auswertung ausgewählter Bildquellen und versucht, Schleierformen des späten 14. Jahrhunderts nicht als starre Kategorien, sondern als Teil einer sich entwickelnden Mode zu verstehen.

Titelbild: 1370-1372, Heimsuchung Mariens, Altar von Schloss Tirol, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bild: (c) Imareal Institut für mittelalterliche Realienkunde

1400-1410, Kreuzigung Christi, St. Stephan in Obermontani; Bild: (c) Imareal

Der einfache Schleier

Der einfache Schleier ist im späten 14. Jahrhundert eine häufige Form weiblicher Kopfbedeckung. Für Tirol ist er in zahlreichen Bildquellen zwischen etwa 1370 und 1430 belegt – im kirchlichen ebenso wie im weltlichen Kontext.

Meist handelt es sich um ein rechteckiges oder halbkreisförmiges Tuch, überwiegend aus Leinen oder Wollmusselin, das locker über den Kopf gelegt und mit Nadeln fixiert wurde. Je nach Anlass und sozialem Umfeld konnte das Haar vollständig bedeckt bleiben oder teilweise sichtbar sein. Besonders konservativ wirkt die Verbindung mit Gebende oder Kinnband, wie sie offenbar bevorzugt beim Kirchgang getragen wurde.

Tiroler Darstellungen aus St. Vigil unter Weineck, Stams, Schenna oder dem Dom zu Brixen zeigen Schleier, die bewusst schlicht gehalten sind. Auffällige Randverzierungen oder extreme Längen fehlen fast völlig. Der Eindruck ist funktional und zurückhaltend, also eine alltagstaugliche Kopfbedeckung.

1360-1370, Geburt des Hl. Johannes des Täufers, St. Johann im Dorfe, Südtirol; Bild: (c) Imareal

1380-1400, Kreuzigung Christi, Stifter, Stifterin, Schenna; Bild: (c) Imareal

Schleier mit gekräuseltem Rand – eine mögliche Übergangsform

Neben diesen schlichten Schleiern tauchen in den Bildquellen des späten 14. Jahrhunderts immer wieder Varianten auf, die auf den ersten Blick ähnlich wirken, bei genauerem Hinsehen aber einen auffällig gestalteten Rand zeigen. Der Stoff selbst bleibt glatt, doch die Kante ist leicht gekräuselt oder wellig ausgeführt.

Diese Schleier stehen sichtbar zwischen dem unverzierten Alltagsschleier und dem Kruseler. Die Kräuselung ist dezent: sanfte Wellen oder eine gleichmäßige, feine Struktur, keine mehrlagigen Rüschen. Gerade diese Zurückhaltung macht sie interessant. Sie wirkt wie eine bewusste Aufwertung des einfachen Schleiers, ohne bereits den modischen und sozialen Anspruch eines Kruselers zu erreichen.

Solche Formen finden sich auch in Tiroler Bildquellen des ausgehenden 14. Jahrhunderts und scheinen vor allem im bürgerlichen bis gehobenen Umfeld aufzutreten. Sie passen gut in eine Zeit, in der Mode nicht sprunghaft, sondern schrittweise komplexer wird.

Für mich sprechen diese Beobachtungen dafür, dass gekräuselte Ränder bei Schleiern keine Ausnahme waren, sondern über längere Zeit bewusst verwendet wurden.

1370-1380, Hl. Maria mit Kind, Meran; Bild: (c) Imareal

Der Kruseler – der Kragenkruseler als regionale Ausprägung in Tirol

Der Kruseler bildet im späten 14. Jahrhundert den deutlichsten Gegenpol zum schlichten Schleier. Für Tirol ist vor allem eine spezifische Variante belegt, der sogenannte Kragenkruseler. Charakteristisch ist, dass die Rüschen das Gesicht rahmen und zusätzlich in mehreren Reihen auf den Schultern aufliegen, während die Halspartie glatt bleibt.

In den Tiroler Bildquellen erscheint der Kruseler meist als eigenständiges Schleiertuch. Zwar kann er mit einem Kinntuch („Rise“) kombiniert werden, doch wird er häufig ohne weitere Kopfbedeckung dargestellt. Er fungiert klar als modische Hauptzier.

Sein sozialer Kontext ist eindeutig: Der Kruseler gehört in Tirol vor allem in das großbürgerliche und adelige Umfeld. Entsprechend findet man ihn in Stifterdarstellungen, auf Altären sowie in Heiligenfiguren. Gut belegte Beispiele sind der Altar von Schloss Tirol (1370–1373) und die Fresken von Schloss Runkelstein (um 1390–1395).

Die Rüschen erscheinen als sanfte Wellen oder klar gegliederte Zickzacklagen. Aufwendige Waben- oder Gitterkonstruktionen, wie sie aus nördlicheren Regionen bekannt sind, fehlen in den Tiroler Quellen vollständig. Der Kruseler ist hier modisch anspruchsvoll, aber nicht überladen.

Wie genau diese Rüschen hergestellt wurden – ob durch Webkanten, Nähen, Falten oder Plissieren – lässt sich anhand der Bildquellen nicht eindeutig klären. Klar ist jedoch, dass die gleichmäßige Struktur und Mehrlagigkeit kaum allein zufällig entstanden sein können. Wahrscheinlich ist eine gezielte Verarbeitung des Stoffes, unterstützt durch Pressen und Stärken. Entscheidend ist letztlich weniger die Technik als das Ergebnis: ein bewusst gestalteter Schleier, der Modebewusstsein und sozialen Rang sichtbar macht.

Schleier im späten 14. Jahrhundert: Bildquellen aus Tirol

Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht über die im späten 14. Jahrhundert in Tirol belegten Schleierformen, basierend auf ein paar ausgewählten Bildquellen.

Zeitraum Titel / Beschreibung Ort / Fundort / Museum URL Schleierform
1350–1400 Puppenkopf, Keramik Erzherzog-Eugen-Straße 10, Hall in Tirol, Stadtarchäologie Hall in Tirol Link Kruseler
1360–1370 Geburt des Hl. Johannes des Täufers St. Johann im Dorfe, Südtirol Link Schleier mit gekräuseltem Rand
1370–1372 Altar von Schloss Tirol – Heimsuchung Mariens Schloss Tirol,
Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
Link Einfacher Schleier
1370–1372 Altar von Schloss Tirol – Hl. Johannes Evangelist, Hl. Sigismund?, Stifter Schloss Tirol, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Link Kruseler
1370–1380 Hl. Maria mit Kind Meran Link Kruseler
1380–1400 Kreuzigung Christi, Stifter, Stifterin Schenna Link Einfacher Schleier
1385–1390 Verkündigung an Anna Mittelschiff, Bozen, St. Vigil unter Weineck Link Kruseler
1390–1390 Engel musizierend Stams Link Schleier mit gekräuseltem Rand
1390–1395 Frau, Mann Burg Runkelstein Link Kruseler
1395–1400 Hl. Cyprian versucht seine Zaubermittel Sarnthein, Südtirol Link Kruseler
1400–1410 Kreuzigung Christi St. Stephan in Obermontani Link Schleier mit gekräuseltem Rand
1405–1410 Monat Oktober Castello Buonconsiglio, Trient Link Einfacher Schleier
1410–1420 Kreuzigung Christi – Flügelaltar Churburg, Schluderns Link Einfacher Schleier
1420–1430 Werke der Barmherzigkeit, Kranke besuchen Dom Brixen Link Einfacher Schleier

1350-1400, Puppenkopf aus Keramik, Fundort: Erzherzog-Eugen-Straße 10; Bild: Stadtarchäologie Hall i.T.

1370-1372, Hl. Johannes Evangelist, Hl. Sigismund, Stifter, Altar von Schloss Tirol, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum; Bild: (c) Imareal

1385-1390, Verkündigung an Anna, Bozen, St. Vigil unter Weineck; Bild: (c) Imareal

ca. 1390, 011089A Engel musizierend, Stams; Bild: (c) Imareal

1390-1395, Frau, Burg Runkelstein; Bild: (c) Imareal

1395-1400, Hl. Cyprian versucht seine Zaubermittel, Sarnthein, Südtirol; Bild: (c) Imareal

1405-1410, Monat Oktober, Castello Buonconsiglio, Trient; Bild: (c) Imareal

1410-1420, Kreuzigung Christi, Flügelaltar, Churburg, Schluderns; Bild: (c) Imareal

1420-1430, 002541 Werke der Barmherzigkeit, Kranke besuchen, Dom Brixen; Bild: (c) Imareal

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